Apotheken Umschau 11-2006
Arzneimittelverpackungen
Innovative Verschlüsse sollen Kleinkindern den Zugriff auf Medikamente erschweren
Für Kinder sehen sie aus wie bunte Smarties, weiße Zuckerbonbons oder süßer Fruchtsirup – in Wirklichkeit sind es Arzneidragees, Tabletten oder Hustensäfte. Das birgt Gefahren. Experten schätzen, dass 60 Prozent der jährlich etwa 200000 Vergiftungsunfälle bei Kindern auf Medikamente zurückzuführen sind. „Am häufigsten sind Vergiftungen mit Psychopharmaka, Schmerz- und Beruhigungsmitteln“, sagt Professor Michael Lentze, Leiter der Informationszentrale gegen Vergiftungen der Universität Bonn, „ gefolgt von Hustenblockern und Blutdrucksenkern.“ Am meisten gefährdet sind Kleinkinder, die ihre Umwelt gern durch Lutschen und Kauen erkunden und vieles in den Mund stecken. Kinderärzte in den USA forderten bereits vor 50 Jahren, die Zahl der Tabletten pro Packung stärker zu begrenzen und Verpackungen zu entwickeln, die kindlicher Neugier besser widerstehen. Heute sind kindersichere Verpackungen auch in Europa für viele Arzneistoffe vorgeschrieben – unter anderem für Schmerzmittel, Antidepressiva oder Hustenblocker. Die Verpackungsindustrie bedient sich dabei verschiedener „Tricks“: „Kleinkinder haben zum Beispiel Probleme damit, zwei verschiedene Bewegungen gleichzeitig auszuführen“; erklärt Dr. Horst Antonischki vom Institut VerpackungMarktforschung ivm in Braunschweig, „etwa einen Verschluss hinunter zudrücken und dabei zu drehen.“ Seit mehr als 30 Jahre prüft und zertifiziert Antonischki kindersichere Verpackungen nach internationalen Normen. Testpersonen sind Kinder im Alter zwischen 42 und 51 Monaten: Erst versuchen die Kleinen fünf Minuten lang alleine die Packung zu öffnen. Danach macht der Prüfer vor, wie es geht, und die Kinder probieren es erneut fünf Minuten. „Eine Packung gilt al kindersicher“, erklärt Antonischki, „ wenn vor der Demonstration mindestens 85 Prozent und danach mindestens 80 Prozent den Sicherheitsverschluss nicht öffnen konnten.“ Noch immer wird diskutiert, wie viele Tabletten den Kindern beim Öffnen höchstens in die Hände fallen dürfen. „ In Europa gilt bei festen Arzneiformen derzeit eine Grenze von acht Einheiten“, berichtet Antonischki, „ unabhängig von Dosis und Giftigkeit der Inhaltsstoffe. „Für den Verpackungsprüfer ein unhaltbarer Zustand: „Bei manchen Medikamenten ist schon eine Tablette lebensgefährlich.“
Intelligente Packungen fürs Gedächtnis
Die in Europa derzeit gebräuchlichsten kindersicheren Arzneimittelverpackungen sind Drück-Dreh-Verschlüsse und Blister, bei denen Tabletten, Dragees oder Kapseln einzeln in Aluminiumfolie verpackt sind. „Allerdings schneiden die Drück-Dreh-Verschlüsse in Test mit 50- bis 70 Jährigen oft schlecht ab“, sagt Antonischki. Vor allem Senioren mit Gelenkbeschwerden haben Probleme damit. Deshalb entwickelt die Verpackungsindustrie neue Varianten, die für alte Menschen besser zu handhaben sind (siehe Grafiken). „Vielversprechend sind die sogenannten Wallets“, erklärt Antonischki. Die brieftaschenähnlichen Gebilde aus den USA sind kindersicher und ermöglichen es zudem, Medikamente besser zu dosieren.“ Unterschiedliche Farben oder Symbole könnten älteren Menschen daran erinnern, wann sie welche Tablette nehmen müssen.“ Wegen ihres hohen Preises kommen Wallets in Deutschland bislang nicht zum Einsatz. „Die Überwachung der Medikamenteneinnahme bei Älteren wird aber irgendwann so teuer“, prognostiziert Antonischki, „dass sich intelligente Verpackungen auf lange Sicht durchsetzen werden.“ Letztlich könne nur der Druck der Verbraucher etwas bewirken: „Solange sich niemand für durchdachte Verpackungen interessiert, könnten wir nicht erwarten, dass die Industrie Geld dafür ausgibt.„
Kindersicherung als letzte Barriere
Eine preiswertere Alternative sind Blister mit kindersicherer Deckfolie. „ Eine normale Durchdrückfolie aus Aluminium ist nur 20 millionstel Meter dick und mit Heißsiegellack beschichtet“. Erklärt Elmar Maus, Mitarbeiter der Firma Alcan Packaging in Singen. „Kindersichere Folien sind dicker, haben statt des Heißsiegellacks eine PVC-Folie auf der Innenseite und halten daher größere Belastungen aus.“
In den USA sind bereits verschiedene Varianten auf dem Markt: Bei dem Abzieh-Drück-Blister etwa muss der Patient zunächst eine Deckfolie abschälen und die Tablette dann durch die Aluminiumfolie drücken. „ In den USA sind die Anforderungen an kindersichere Verpackungen strenger“, berichtet Maus. „Deshalb hat sich diese Version dort als besonders erfolgreich erwiesen.“ Damit sich derartige Sicherheitsfolien auch in Europa durchsetzen, müsse der Gesetzgeber zunächst strengere Richtlinien fordern. Hundertprozentige Sicherheit können und sollen kindersichere Verpackungen freilich nicht gewährleisten – schließlich müssen sie ja noch irgendwie so öffnen sein. „ Die Eltern sollen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden“, betont Horst Antonischki. Nicht ohne Grund steht laut gesetzlicher Vorschrift auf jeder Packung „Arzneimittel für Kinder unzugänglich aufbewahren“. Die Kindersicherung“, so der Verpackungsprüfer, „ist nur eine letzte Barriere für den Fall, dass andere Schutzmaßnahmen nicht greifen.“